Hallo Amor,
du schreibst:
Amor hat geschrieben: Do Apr 09, 2020 9:17 am
Monogamie als sozialer Anspruch kann als eine Art Verhaltenskontrolle verstanden werden, die sehr wirkungsvoll über Moral, Angst um Ansehen sowie Verlust des eigenen gesellschaftlichen Status ausgeübt wird.
[...]
Eine Religion fußt auf einer Mythensammlung, die durch Priester tradiert wird.
So dienen die Priester dem Funktionieren einer Gesellschaft. Wie soll die Gesellschaft z.B. auf eine Seuche reagieren?
Man soll z.B. aus Sodom und Gomorrha fliehen und sich auf die Kernfamilie beschränken!
Mythensammlungen sind oft Inhalt von religiösen Kulten. Jede Form von nicht-religiöser Gemeinschaft, die einen Guru hat, ist in der Lage, einen Kult bzw. eine Ideologie zu etablieren, wenn diese Ideologie von Führungspersönlichkeiten tradiert und von Privatperson zu Privatperson weitererzählt und kultiviert wird. Wichtig ist, dass alle oder ein Großteil der Gruppenmitglieder an diese Ideologie glauben. Diese Dynamik kann so stark werden, dass das Infragestellen der vorherrschenden Ideologie zum Tabu wird.
Wenn jetzt die Bevölkerung deiner Annahme folgen würde, dass die Beschränkung auf die Kernfamilie einen Infektionsschutz darstellt, wäre das, wie ich im folgenden Text noch beschreiben werde, ein Mythos. Die gesellschaftliche Realität sieht - glücklicherweise! - sehr anders aus.
Amor hat geschrieben: Do Apr 09, 2020 9:17 am
Aber was ist mit Monogamie im Sinne von sexueller Exklusivität, der Tabuisierung außerehelicher Beziehungen, dem Distanzgebot in außerehelichen Beziehungen?
Ein Tabu hat mit großer Angst zu tun. Sie kann vielleicht in der Angst vor einer tödlichen Krankheit ihren Ursprung haben.
In der jetzigen Coronazeit leistet das Exklusivitätsversprechen den Schutz vor einer potentiell tödlichen Krankheit.
Meine Sichtweise darauf: Ehe und damit das Exklusivitätsversprechen gibt es nicht mehr in der Reinform, Exklusivität ist sowie in Auflösung begriffen (Stichwort serielle Monogamie). Es gibt zwar dieses Versprechen, zur gleichen Zeit nur einen Partner oder eine Partnerin zu lieben, diese Lieben sind oft kurzzeitig auf einige Jahre Dauer angelegt (Lebensabschnittgefährte) und enden häufig, sobald Begehren für einen weiteren Menschen ins Spiel kommt und bekannt wird. Scheidungszahlen wie auch Ein-Eltern-Familien alleinerziehender Menschen - bzw. nach neuer Verpartnerung Patchwork-Familien - nehmen zu. Scheidung ist keine soziale Katastrophe mehr, die die eigene Existenz bedroht, sondern wird in der Breite der Gesellschaft als realität akzeptiert, wenn auch in der Folge nicht frei von Diskriminierung.
Wäre es der Fall, dass Monogamie eine Seuchenbekämpfungsmassnahme wäre, würde die Regel für Social Distancing lauten: Nur Ehepartner_innen dürfen miteinander engen Kontakt haben. In diesem Fall wäre Monogamie oder Zwangs-Exklusivität als Seuchenbekämpfung nur dann von Sinn, wenn es wie von dir angesprochen Scheidung und Trennung ein Tabu wäre, welches gesellschaftlich so schwer wiegt, dass es Trennungsvorhaben effektiv verhindert (darauf komme ich weiter unten nochmal zurück).
Das Gegenteil ist der Fall: Das Treffen von Lebenspartner_innen ist erlaubt, ebenso der Kontakt zu Menschen der eigenen häuslichen Gemeinschaft. Diese dürfen sich in der Öffentlichkeit miteinander bewegen, ohne die 1,5 m Sicherheitsabstand zu wahren. Kinder alleinerziehender Eltern dürfen weiterhin beide Elternteile treffen, auch dann, wenn das Ansteckungsrisiko hoch ist, wenn beispielsweise ein Elternteil in einem systemrelevanten Beruf arbeitet. In diesen Situationen leben die Kinder ja häufig auch mit der neuen Familie des umgangsberechtigten Elternteil zusammen, die neue Familie ja wiederum möglicherweise auch in Patchwork-Konstellationen. Das führt potenziell zu einer großen Kette an Menschen, die miteinander engen Kontakt haben und das Virus wiederum aneinander weitergeben könnten, sobald einer infiziert ist.
Die Beziehungsformen, die unsere Gesellschaft hervorbringt, sind vielfältig: Monogame Ehen, Patchworkfamilien, Lebenspartner_innen, die sich keine gemeinsame Wohnung teilen, WG´s und größere Gemeinschaften, in denen Menschen in festen Gruppen unter einem Dach leben, sich Küche und Bad teilen, gemeinsam Kinder betreuen, kochen und Zeit miteinander verbringen.
Die aktuellen Regelungen spiegeln wieder, dass das exklusive Privileg der monogamen Ehe weitgehend aufgeweicht ist.
Die soziale Akzeptanz alternativer Lebensformen wird durch diese Regelungen eher noch gefestigt. Monogamie und Ehe wird nicht in herausragender Bedeutung sondern als ein Lebensmodell von vielen in der Pandemie-Bekämpfung berücksichtigt. Gerade die rechtliche Absicherung in Bezug auf das Kindeswohl, was Umgang mit beiden Elternteilen auch in der Pandemie-Zeit vorsieht, festigt Patchwork_Familien als eine gesellschaftlich akzeptierte Realität. Das gleiche gilt für Lebenspartnerschaften, die nicht im gleichen Haushalt wohnen, sie sind auch nicht der Kontaktsperre unterworfen.
Mein Fazit:
Sobald Familien und Beziehungspartner_innen in "unordentlichen" Verhältnissen miteinander leben, ist die Monogamie-Regel zur Seuchenbekämpfung nicht mehr praktikabel. Für polyamore Partner_innenschaften gibt es keinen Plan, der besagt, dass nur ein_e Lebenspartner_in getroffen werden darf. Das polyamore Szenario kommt in den Regeln zur Pandemie-Eindämmung schlichtweg nicht vor.
Mich beschäftigt vielmehr die Entstehung anderer Ungleichheiten jenseits von Monogamie und Ehe sowie die Marginalisierung von der Politik in bestimmte Kategorien eingeteilter Gruppen wie "ältere menschen" und "Singles".
Dürfen Menschen, die "alt" oder "Single" sind, innerhalb der Corona-Pandemie besuch bokommen und/oder neue Beziehungen eingehen, wenn es ein Kontaktverbot näher als 1,5 m gibt? Wer nimmt sie denn mal in den Arm?
Und wie definieren sich diese Kategorien? Ist ein Mensch Single, der seine sexuellen Bedürfnisse in einer Freundschaft plus erfüllt, sonst aber gerne alleine lebt? Dürfen sich Menschen besuchen, die miteinander eine Fernbeziehung führen?
Da sind noch einige Fragen offen...
Herzensgrüße
Susa