Hallo Babs
Babs hat geschrieben: Di Apr 28, 2020 10:16 pm
Gehört dont’ ask - don’t tell nicht zum Feld der Polyamorie?
Ui, das ist eine Frage mit "Glatteis-Potential".

Es berührt für mich sehr die Frage nach der Definitionsmacht, die ich mir in diesem Forum auch nicht zuschreibe. Dennoch wird don't ask don't tell in einem Atemzug mit Fremdgehen von mir benannt, also versuche ich eine Antwort.
Etwas zum Wortursprung: Don´t ask, don´t tell beschreibt ursprünglich die Diskriminierung und Negierung von homosexuellen Männern innerhalb der US-Streitkräfte. Ein historischer Zusammenhang, den ich persönlich ungerne in Verbindung mit Polyamorie genannt wissen will und von dem ich mich persönlich distanziere.
Und jetzt zum konkreten Inhalt deines Beitrags:
Babs hat geschrieben: Di Apr 28, 2020 10:16 pmWenn zwei Menschen einvernehmlich beschließen, dass ein Beziehungspartner keine Informationen über eine weitere Verbindung (vom One Night Stand über Affäre bis Beziehung) haben möchte, weil es sonst zu schmerzhaft wird, halte ich das für eine einvernehmliche, transparente Verabredung.
Beide wissen, dass es eine andere Verbindung gibt, und beide sind damit einverstanden.
An einem Punkt bin ich ganz bei dir: Don´t ask, don´t tell kann das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen mehreren Menschen sein, der für alle Beteiligten stimmig, mit festgelegten Grenzen transparent und konsensuell ist. Ob das, was in der jeweiligen Verbindung bzw. Beziehung passiert, einvernehmlich wäre, wenn es allen Beteiligten bekannt wäre, bleibt offen und entspricht nicht meiner Vorstellung von Einvernehmlichkeit. Diese ist meiner Erfahrung nach auch in transparenten Beziehungsnetzen nicht immer erreichbar, dann braucht es Kompromisse.
Weiterhin:
Babs hat geschrieben: Di Apr 28, 2020 10:16 pmJedenfalls unterscheidet sich dont' ask - don't tell aus meiner Perspektive vom klassischen Fremdgehen, bei dem einer der Partner ahnungslos ist.
Auch hier bin ich bei dir. Ein Mensch, der sich als polyamor definiert, kann eine don´t ask, don´t tell-Vereinbarung mit einem Herzensmenschen treffen, ohne dass dies Auswirkungen auf seine gefühlte Zugehörigkeit zur Polyamorie hat oder dass sie/er Partner_Innen hintergeht. Auch Menschen, die gerade in keiner bzw. einer Beziehung leben, sind deswegen nicht monoamor. An dieser Stelle geht es wohl eher um pragmatische Fragen: Welche Menschen finde ich, die zu mir passen und mit denen ich mich auf eine Ebene von Zugehörigkeit und in Verbindung-sein einigen kann, die uns beiden entspricht? Wenn der kleinste gemeinsame Nenner nicht zu klein ist, ist da eine große Fülle an Möglichkeiten denkbar.
Don´t ask, don´t tell-Verbindungen bedeuten nicht per se das Fehlen von Liebe, tiefen Gefühle oder fester Verbindlichkeiten - auch ist dieses Modell nicht ausdrücklich von der Polyamorie ausgeschlossen.
Auf Wikipedia steht unter der Definition von Polyamorie:
Polyamorie oder Polyamory (ein Kunstwort aus altgriechisch polýs „viel, mehrere“, und lateinisch amor „Liebe“; englisch polyamory) bezeichnet eine Form des Liebeslebens, bei der eine Person mehrere Partner liebt und zu jedem einzelnen eine Liebesbeziehung pflegt, wobei diese Tatsache allen Beteiligten bekannt ist und einvernehmlich gelebt wird.[1][2][3] Polyamore Beziehungen gründen auf der Absicht, die gewünschten Beziehungen langfristig und vertrauensvoll miteinander zu gestalten,[4] meist schließen sie Verliebtheit, Zärtlichkeit und Sexualität ein.
https://de.wikipedia.org/wiki/Polyamorie.
Warum ich im don´t ask, don´t tell-Zusammenhang dennoch nicht von Polyamorie sprechen mag, ist dür mich eine gleichermaßen philosophische wie ethische Frage und zwar sowohl die Frage, was eine Beziehung ausmacht, (Stellenwert von Transparenz, Kommunikation und Absprachen innerhalb einer Beziehung) als auch die Frage nach Hierarchien, die du selbst ansprichst:
Babs hat geschrieben: Di Apr 28, 2020 10:16 pm
Allerdings: Ja, für mich ist so ein Konstrukt eher in den äußeren Rändern der polyamoren Sphäre angesiedelt. Natürlich fühlt sich offene Polyamorie anders an, bei der alle die anderen Mitglieder des "Polyküls" kennen.
Durch don’t ask – don’t tell entsteht bei mir gefühlt eine Beziehungshierarchie: Wer tabuisiert wird, ist draußen. Diese Beziehungshierarchie erlebe ich auch bei einer offenen Beziehung, in der es eine Hauptpartnerschaft und transparente Nebenpartnerschaften gibt.
Dem schliesse ich mich an.
Zum theoretischen Aspekt von Tabus: Tabus sind Sprechakte, die eine gesellschaftliche Ordnung transportieren und reproduzieren. Wie im Wortursprung sichtbar wird, transportiert don´t ask, don´t tell das Tabu von Homosexualität. Der Paragraph 175, der Homosexualität unter Strafe stellt, wurde in Deutschland erst 1994 aus den Gesetzbüchern entfernt. Mein erstes Outing als bisexuell fühlende junge Frau hatte ich 1999, fünf Jahre später. Entsprechend fiel die Reaktion meines Umfeldes aus.
Mit mir über meine Gefühle zu sprechen, hätte viel Verbindung und Vertrauen zwischen mir und meinen engsten Bezugspersonen geschaffen. Die gegenteilige Reaktion hat es verhindert, dass wir usn besser kennengelernt haben.
Polyamorie bedeutet für mich das: Über die weiteren Beziehungen, die meine Partner_innen führen, mehr über sie zu erfahren, sie genauer und differenzierter kennen zu lernen und mcih auf den ganzen Menschen beziehen zu können und nicht nur auf den Menschen, den ich in meinen Partner_innen anspreche und der sichtbar wird, wenn sie mit mir sind.
Das wird meiner Auffassung nach durch don´t ask don´t tell genauso unsichtbar gemacht wie Homosexualität innerhalb der Militärgesellschaft.
Wie Babs schon sagte, sind es nicht immer schlechte Motive, es gibt gute Gründe, sich für eine solche Regelung zu entscheiden und wenn es auf bewussten, einvernehmlichen Entscheidungen beruht, ist das auch nicht unethisch. Dennoch frage ich mich, was das Verschweigen von Gefühlen und Bedürfnissen mit Menschen und Beziehungen macht und ab welchem Punkt eine Beziehung ohne die Kommunikation über wichtige Bereiche des eigenen Lebens noch eine solche genannt werden kann?
Die ethische Frage und der Zusammenhang zum klassischen Fremdgehen ist für mich der, ob ich meine Partner_innen hintergehe, wenn ich ihnen nur das von mir zeige, was ich ihnen zeigen will?
Zusammengefasst: Wieviel Vertrauen und Kommunikation braucht es in einer Verbindung, um sie als Beziehung zu bezeichnen? Und weitergedacht: Ist eine bestimmte Form der Kommunikation, beispielsweise über Begehren, über Intimität, über Sexualität, über Beziehungsthemen jenseits der exklusiven Paar-Beziehung möglicherweise das, was den Übergang zwischen Monoamorie und Polyamorie ausmacht?
Nächtliche Grüße
Susa